Kraftquelle in der Fastenzeit: Eva und der Zitronenfalter

Susanne Niemeyer, Eva und der Zitronenfalter. Frauengeschichten aus der Bibel, edition chrismon, 6. Auflage 2020, Seite 134-139.

Als der Engel auftaucht, bin ich nicht vorbereitet. Ich sitze in Jogginghose auf dem Sofa und tue gerade nichts. Die Hose hat ein Loch, ein kleines nur, aber es ist mir peinlich. Irgendwie denke ich, bei der Begegnung mit einem Engel sollte man angemessen gekleidet sein. Er runzelt die Stirn. Das wird er noch öfter tun. Er sieht dabei ein bisschen spöttisch aus. »Was meinst du, wie Gott gekleidet ist?« 

Gar nicht?«, tippe ich. »Na also.« Er nickt zufrieden, als hätten wir etwas Wichtiges geklärt. Dann sagt er:
Also los, fangen wir an.«
Ich weiß nicht, was er meint. »Womit?«
Mit dem Leben«, sagt er und lacht.
Ich bin 56, habe zwei Kinder großgezogen und einen Mann. Man kann nicht sagen, dass ich bisher nicht ge­lebt habe. Aber holperig war es oft. Das gebe ich zu. Jetzt, wo die Kinder groß sind, frage ich mich, was das Leben soll. Was ich soll. Der Mann ist weg. Ich habe ihn raus­geworfen. Das bereue ich manchmal. Es ist eine kom­plizierte Geschichte, an deren Ende ich immer wieder grübele, ob ein Kompromiss nicht doch besser gewesen wäre. Ich meine, das halbe Leben besteht schließlich aus Kompromissen, oder? 

Der Engel wischt meine Gedanken beiseite. »Du grü­belst zu viel. Hinter Grübelei kann man sich gut ver­stecken. Du musst da rauskommen. Hol uns ein Bier.«  Er guckt auffordernd. Ich habe mir nie viele Gedan­ken gemacht, was ich im Falle einer Engelsbegegnung sagen würde. Oder was der Engel von mir wollen könnte. Aber ich bin sicher: Bier ist es nicht. »Ich habe kein Bier«, stottere ich. »Trinke ich nicht.« 

Der Engel verdreht die Augen. »Was trinkst du denn?« Schnell fügt er noch hinzu: »Und sag nicht Wasser!«
»Manchmal ein Glas Aprikosenlikör.«
»Dann hol uns davon. Und das Glas mach voll. Wir brauchen was, das dich locker macht.« 

Ich bin so überrumpelt, dass ich tatsächlich in die Küche gehe. Das soll ein Engel sein? Ich hole den Likör, bleibe in der Tür stehen und sehe ihn an. Flügel hat er nicht. Er redet sonderbar. Vielleicht ist er einfach ein Einbrecher? 

Er schüttelt den Kopf. Meine Gedanken scheint er jedenfalls zu kennen. »Engel brauchen keine Flügel. Das ist ein Irrtum. Aber Einbrecher ist nicht falsch. Wir brechen ins Leben ein. Geben manchmal einen Schubs. Je nachdem.« Er hebt sein Glas. »Prost«, ruft er. Und dann ist er weg. 

Ich blinzele ein paar Mal ungläubig und frage mich, was da gerade passiert ist. Das kann doch nicht sein oder? Auf einmal komme ich mir sehr albern vor in meiner alten Hose und dem Likörglas. Aber ich nippe trotzdem daran. 

»Lach mal.« Da ist er wieder. Zwei Tage sind vergangen. Ich habe beim Bügeln und beim Abwaschen an ihn gedacht, morgens beim Aufwachen habe ich nach ihm Ausschau gehalten. Ich wollte, dass er wiederkommt.

»Ich habe nichts zu lachen«, antworte ich. Solche Aufforderungen mochte ich noch nie. Wie soll man denn auf Knopfdruck fröhlich sein? 

»Ist alles eine Frage der Einstellung«, erwidert er gut gelaunt. Er kramt ein Buch aus meinem Regal. Es ist Lo­riot. »Hier«, sagt er. »Damit kannst du das Lachen üben. Dich selbst nicht so wichtig nehmen.« 

Ich will einwenden, dass ich das Buch unzählige Male gelesen habe und dass es im Gegenteil sehr wichtig ist, sich selbst wichtig zu nehmen. Dass man das Acht­samkeit nennt, aber er schüttelt unwillig den Kopf.

Kennst du Jesus? Der hat gesagt, wer sich selbst verliert, wird sich finden. Lernst du lachen über dich, brauchst du niemand anderen zum Fröhlichsein.« 

Ich bin verwirrt. Einen Engel habe ich mir anders vorgestellt und seine Botschaft auch. 

Er sieht mich neugierig an. »So«, sagt er, »hast du dir mich also anders vorgestellt? Wie denn?« 

Ich vergesse immer noch, dass er meine Gedanken kennt. »Weiß nicht«, antworte ich. »übersinnlicher. Spiritueller. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Engel mal zum Bier einlädt. Eher zum Meditieren oder so.« Er runzelt die Stirn. »Jeder kriegt den Engel, den er braucht. Meditieren ist nicht gut für dich. Du musst beim Leben mitmachen. Frei nehmen.« 

» Macht meditieren nicht frei?«
» Schon, aber nicht dich.«

Miriam und Kai streiten. Die beiden sind meine Kollegen und sie streiten dauernd. Es geht mir auf die Nerven, aber ich habe im Laufe der Zeit gelernt, es zu ignorieren. Wir arbeiten seit hundert Jahren zusammen, jedenfalls gefühlt. Miriams Augen glänzen verdächtig. Es würde mich nicht wundern, wenn sie gleich heult. 

Los sagt der Engel. Er taucht Situationen auf. Offenbar bin ich die Einzige, die ihn sieht. »Misch dich ein.«
Bin ich verrückt? Ich habe damit nichts zu tun.« Er sieht mich verärgert an. »Bist du Mitglied der Welt?«

» Ja, aber - «
» Nicht aber. Hat Jesus mit Huren und Betrügern zu tun gehabt?«
» Nein, aber - «
» Aber was? Er hat auch eingegriffen. Versucht zu helfen. Streit zu schlichten. Er hat nie gesagt: Mir doch egal.« 

Das muss man metaphorisch sehen«, wende ich ein und merke selbst, wie lahm das klingt. Er guckt mich spöttisch an. »Metaphorisch ist kein Wort von Gott. Sind Birnen etwa metaphorisch geschaffen? Der Himmel, Zitronenfalter, die Liebe?« 

» Nein, aber - «
» Jetzt hör mal auf mit Aber.«
» Warum sprichst du eigentlich so komisch?«

Sieben Tage vergehen. Er taucht nicht wieder auf. Er fehlt mir. Irgendwie habe ich mich an ihn gewöhnt. Er macht etwas mit mir; ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich fühle mich freier. Genauer gesagt, fühle ich mich wieder ein bisschen so, wie ich mich fühlte, als ich neunzehn war. Da wollte ich noch was vom Leben. Ich wollte mitmischen, dabei sein. Er gibt mir meinen Idealismus zurück, ich glaube, das ist es. 

Das will ich nicht wieder verlieren. Er soll kommen und mir mit seiner sonderbaren Art weiter Mut machen. Ich werde nervös. Habe ich etwas falsch gemacht?
Du hast nix falsch gemacht.« Da ist er. Ich atme auf.

Aber er lässt mich gar nicht zu Wort kommen. »Das ist dumm, immer zu denken, du hast was falsch gemacht. Vergiss es. Das ganze Leben ist ein Versuch. Du kriegst kein Zeugnis dafür.« 

Aber was ist mit dem Sinn? Dem großen Ganzen?«, wende ich ein. »Was ist mit meinem Auftrag?«

Der Auftrag heißt: Leben. Gott hat für dich ein Ticket reserviert für diese Welt. Das sollst du nutzen. Fang an.« 

Dann ist er verschwunden. Ein paar Tage warte ich noch auf ihn, obwohl ich weiß, dass er nicht wieder kommen wird. Das Zimmer riecht noch immer nach Aprikosen. Ich weiß: Ich bin dran. 

 

Ihr werdet von mir begeistert und werdet meine Zeugen sein auf der ganzen Erde. 

NACH APOSTELGESCHICHTE 1,8

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