Von der Kraft der Präsenz

„„Wenn ich als Therapeut ganz auf

meinem Höhepunkt bin, wenn ich

meinem inneren intuitiven Selbst

ganz nah bin, ... scheint einfach

meine Gegenwärtigkeit [presence]

befreiend und hilfreich. (...) In solchen

Augenblicken scheint es, dass

mein innerer Sinn [inner spirit] sich

hinausgestreckt und den inneren

Sinn des anderen berührt hat. Unsere

Beziehung transzendiert sich selbst und

wird Teil von etwas Größerem.““

Carl Rogers, 1979


„Hoffentlich können wir uns bald wiederrichtig sehen.“ So oder ähnlich enden jetzt viele meiner Kontakte per Video, Telefon per Mail. Auch die internetaffinsten unter meinen Kolleginnen und Freunden sehnen sich inzwischen nach direkten Begegnungen.

Um einem Menschen wirklich zu begegnen, muss mir der oder die andere gegenwärtig sein. Wir müssen einander sehen, hören, riechen – mit allen Sinnen wahrnehmen. Echte Begegnung braucht Präsenz. Präsenz in einem tieferen Sinn ist mehr als die bloße Anwesenheit im selben Raum. Wer wirklich gegenwärtig da ist, ist aufmerksam und achtsam, ganz konzentriert auf die andere Person und zugleich ganz bei sich.

Carl Rogers, der Begründer der personzentrierten Psychotherapie, beschreibt solche Präsenz als eine große Kraft. Wo sich Momente tiefer Gegenwärtigkeit in seinen Therapien einstellten, waren große Entwicklungsschritte für die KlientInnen möglich. Rogers erzählt von solchen Momenten als seltenen Höhepunkten seiner therapeutischen Arbeit. Er beschreibt sie als „spirituell“.

Präsenz ist ebenso wie echte Begegnung letztlich unverfügbar; sie stellt sich ein. Man kann sich nur darin üben, ihr möglichst gute Bedingungen zu bieten, sie aber nicht erzwingen. Die Begegnung zwischen Menschen, die so füreinander gegenwärtig werden, dass sie einander Raum geben zu leben und zu wachsen, ist immer ein Geschenk.

Solche tiefen Begegnungen sind nicht nur in Corona-Zeiten selten. Sie sind die volle Erfüllung dessen, was wir vermissen, wenn uns andere Menschen abgehen und wir uns danach sehnen, mehr von ihnen zu spüren, als medial vermittelt möglich ist. Aber auch viele unserer Alltagskontakte sind Mikrobegegnungen. Oft ist für einen kurzen Augenblick Nähe und Verständnis da, fühle ich mich in einem Lächeln plötzlich ganz aufgehoben, öffnet mir die Gegenwart eines anderen eine innere Tür.

Wir brauchen einander. Die Corona-bedingten Beschränkungen machen es noch spürbarer. In den gewöhnlichen alltäglichen Begegnungen wie in den besonderen von großer Tiefe entsteht der Raum, in dem wir aufatmen und uns entwickeln können. Hoffentlich können wir das bald wieder direkt erleben.

PS: Ich nenne diese Dimension in allen Begegnungen „spirituell“, weil ich an den Gott glaube, der von sich sagt: Ich bin da. In Gottes Gegenwart tauche ich ein, wenn ich mit anderen ganz präsent bin.

Veronika Prüller-Jagenteufel