Ein Brief und ein Text von Pierre Stutz zur aktuellen Situation

Liebe Leserin, lieber Leser,

durchgewirbelt werden wir in diesen Wochen durch die Corona-Krise, die uns zutiefst

verunsichert. Mit dem Anbrechen des Frühlings erfahren wir nicht nur, wie überall neues Leben

hervorsprießt, sondern eben auch wie begrenzt und endlich unser Leben ist. «Entschleunigung,

Langsamkeit, Langeweile, einen gesunden Lebens- und Arbeitsrhythmus einüben», heißen

zentrale Themen meiner Bücher. Jetzt werden uns diese unterbelichteten Werte verordnet und

wenn wir sie «nur absitzen», verpassen wir einmal mehr die Chance, einen wirklichen

Bewusstseinswandel in uns zu stärken. Es geht um die zentrale spirituelle Lebensgrundhaltung,

dass alles miteinander verwoben ist. Wir sind nie Einzelne oder Einzelner, sondern immer Teil

eines Ganzen. Deshalb vergesse ich trotz der großen Not in der Nähe all die Millionen

Flüchtlinge nicht, die weiterhin durch unser Teilen und unsere Proteste auf uns zählen ...

Auch ich ermutige uns alle, zu Hause zu bleiben, was uns spüren lässt, wie sehr uns gerade jetzt

Berührungen und Begegnungen fehlen und zugleich eine Einladung ist, auch bei uns selbst zu

Hause zu sein. Achtsam ganz bewusst regelmäßig am Tag still zu werden, im Sitzen, im Yoga

oder ... ist auch ein wichtiger gesellschaftspolitischer Beitrag, um der Angst nicht die Regie zu

überlassen. Auch im achtsamen Dasein liegt jetzt unsere Segenskraft, die wir miteinander als

beherzt-solidarische Menschen entfalten können. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen,

herausgefordert unserem Leben auf den Grund zu gehen: Was ist wirklich wesentlich? Wofür

brennt mein inneres Feuer? Was möchte ich nachhaltig ändern, mir, den anderen, der

Klimagerechtigkeit zuliebe?

So wichtig in diesen Tagen die Information ist, weil sich jeden Tag so vieles ändert, so sehr

ermutige ich uns, uns zu schützen vor einem irrealen Hochrechnen von Sorgen, vor nur

negativen Meldungen, die unsere Ängste nähren und uns zu viel Energie kosten, die wir für

unsere kreative Trotzdem-Hoffnung brauchen. Dies ist nicht einfach, jedoch möglich. Mein

Mitgefühl lässt mich manchmal nachts aufschrecken und dann erwache ich morgens mit einer

Schwere. Bleischwer wird mein Aufstehen, wenn ich meine Ängste bekämpfe und mich

abwerte, weil ich doch weiter sein müsste in der Lebenskunst des Vertrauens im Ungewissen ...

Bei mir selbst zu Hause sein, heißt für mich in diesen verunsichernden Zeiten, auch gut mit mir

selbst befreundet zu sein, in dem ich meine Ängste ernstnehme und ihnen zugleich Grenzen

setze, weil sie nur ein Teil von mir sind und ich nicht bereit bin, ihnen alle Zimmer in meiner

inneren Wohnung zu überlassen. Es gelingt mir mehr oder weniger und das ist gut so!

Konkret heißt es für mich, regelmäßig den Tag hindurch einen Moment innezuhalten, tief ein

und auszuatmen, beide Füße fest auf dem Boden und den heilend-göttlichen Atem fließen zu 

lassen, um wahrzunehmen, was ist, ohne es zu bewerten ...mich zu erinnern, immer noch viel

mehr zu sein ... ein Segen zu sein mit meiner Angst und meiner Zuversicht ...

Gerne teile ich mit euch noch eine Meditation, die ich soeben zum aktuellen Hungertuch von

Fastenopfer/Brot für alle/Misereor geschrieben habe, als Ergänzung zum Meditationsheft, das

ich im letzten Rundbrief vorgestellt habe. Darin verdichtet sich meine Hoffnung, dass wir

einander herzlichst verbunden bleiben und einander segnend das Rückgrat stärken können,

jeden Tag neu ...

 

Mit herzlichen Segenswünschen

Pierre Stutz

 

 

Zu-Grunde gehen als Hoffnungskraft

 

Unser gemeinsames Wohnen im Schöpfungshaus

ist zerbrechlich und frag-würdig geworden

wir sind auf uns selbst zurückgeworfen

schonungslos konfrontiert mit der Härte des Lebens

In der Achterbahn der Gefühle

wechseln sich Angst und Vertrauen ab

dunkle Gedanken wollen uns isolieren

in der Panik vor dem Zugrunde gehen

Der erfahrene Wegbegleiter aus Nazareth

bestärkt uns in seiner Trotzdem-Hoffnung

unserem Dasein endlich auf den Grund zu gehen

weil die Würde allen Lebens uns verbindet

Verletzlich und aufgehoben im goldenen Lebenskreis

buchstabieren wir das Leben neu

bleiben nicht fixiert auf unsere Einschränkungen

sondern entwickeln eine beherzte Solidarität

Grund-legend in unserem Zusammensein

ist eine neue Wirtschaftsordnung

die Menschen nicht in die Flucht treibt

die Ökologie und Ökonomie nicht mehr trennt

Äußerlich wird unser Zusammensein heruntergefahren

innerlich kann es durch unseren Bewusstseinswandel

eine längst not-wendende Lebensqualität fördern

in der Dankbarkeit und Mitgefühl wachsen können

Manchmal feiern wir ganz unerwartet

sogar mitten in der Krise ein Fest der Auferstehung

Ängste und Verlorenheit werden aufgeweicht

und ein Vertrauen in die Liebe ist da


Pierre Stutz