Der 21.9. ist der Weltalzheimertag: Aus diesem Anlass ein Text aus der Caritas-Informationsbroschüre für Pflegende Angehörige.
Die Gespräche mit Herrn G., der an Demenz erkrankt ist, zeigen, wie sich die Krankheit Demenz im Alltag äußert und wie Validation in der Praxis funktioniert.
Herr G., 90 Jahre alt, fährt in seinem Rollstuhl auf mich zu und ruft aufgeregt: „Schwester, Sie müssen die Polizei holen!“ Ich frage, ebenfalls aufgeregt: „Was ist passiert?“ „Der kleine Bua ist da, der hat niemanden mehr, er ist allein!“ „Wo sind die Eltern?“ „Die sind hinüber, die sind weg. Rufen Sie die Polizei, die muss kommen.“ „Wie alt ist der Bua?“ „Na, so 5, 6 Jahre.“ „Soll ich mich um den Buben kümmern? „Ja, tun‘s des!“ Herr G. ist zufrieden, nicht mehr aufgeregt. Ohne ein weiteres Wort fährt er weiter.
Einen Tag später sagt er zu mir: „Rufen Sie meine Schwester im 14. Bezirk an, sie steht eh im Telefonbuch.“ „Sie wollen Ihre Schwester sprechen?“ „Die soll mir a Geld bringen, ich hab‘ keines.“ „Brauchen Sie Geld?“ „Ja, ich muss ja wo schlafen, ich hab‘ kein Bett.“ „Herr G., Sie haben hier ein Zimmer.“ „... und a Bett?“ „Ja, wollen Sie es sehen?“ „Und dann kann ich da bleiben?“ „Ja, machen Sie sich keine Sorgen, Sie können da bleiben“
Zwei Tage später fährt Herr G. im Garten herum: „Schwester, wem gehört das?“ „Das gehört zu uns dazu.“ „Und was ist das alles?“ „Das ist ein Caritas Pflegehaus.“ „Kann ich da bleiben?“ „Ja, Sie können da bleiben.“
Wieder einen Tag später. Herr G. fährt mit dem Rollstuhl, blickt den Gang hinunter: „Schwester, wie weit geht das noch?“ „Wo wollen Sie denn hin?“ „Nur da runter.“ Er deutet zum Ende des Ganges: „Gestern bin ich auch da gefahren, da war es kürzer.“ „Gestern war es kürzer?“ „Ja, freilich“, sagt er.
Am nächsten Tag hebt Herr G. die Arme in die Höhe und ruft aufgeregt in den Aufenthaltsraum, in dem gerade der Geburtstag einer Bewohnerin gefeiert wird: „Wann ist der Film aus?“ „Läuft hier ein Film?“ „Wann ist das Theater aus? Meine Frau wartet auf mich zu Hause!“ „Wollen Sie zu Ihrer Frau nach Hause?“ „Ja, freilich.“ „Haben Sie eine liebe Frau?“ „Ja, eine ganz liebe!“ Herrn G.‘s Stimme wird weich und zärtlich. „Schön, wenn Sie sich so gut verstehen.“ „Ja, fahren Sie mich jetzt bitte nach Hause!“ „Herr G. ich kann Sie nicht nach Hause bringen.“ „Muss ich noch durchhalten?“ „Halten Sie es noch aus?“ Er zuckt mit den Schultern und fährt weg.
Ein anderer Tag. Herr G. sieht mich und ruft: „Das geht nicht mit rechten Dingen zu, Anni!“ „Was denn?“ „Da draußen geht einer mit dem Schlüssel herum!“ „Mit welchem Schlüssel?“ „Für den Ausgang: Einmal ist zu, einmal ist offen. Der sperrt auf und zu, auf und zu.“ Er sitzt im Rollstuhl vor der Eingangstüre, die Türe ist nicht verschlossen. Nur gelingt es ihm nicht immer, die Türe zu öffnen. „Sie haben das beobachtet?“ „Ja, Anni, das hab ich. Ich werd‘ noch weiter schauen.“
Helga Singer, Sozialbegleiterin
"Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird."
Christian Morgenstern