Morgengedanken von Caritasdirektor Hannes Ziselsberger in Radio NÖ

Von Sonntag, 9. Jänner bis Samstag, 15. Jänner 2022 präsentiert Caritasdirektor Hannes Ziselsberger die Morgengedanken mit persönlichen Impulsen in Radio NÖ, jeweils um 5.40 Uhr, am Sonntag um 6.05 Uhr. Die Morgengedanken werden bis zum Ende der Woche täglich ergänzt.

Sonntag, 09.01.2022
Eine Woche zum Thema Veränderung. Das habe ich als ersten Impuls gespürt, als ich gefragt wurde, ob ich mir "Morgengedanken" machen möchte. Denn ich fühle eine tiefe Sehnsucht nach Veränderung. Bald beschäftigt uns das Corona-Virus seit zwei Jahren und ich spüre: Ich möchte das nicht mehr. Ich wünsche mir Veränderung. Ich wünsche mir, dass Dinge und Worte wieder in anderen Kontexten erscheinen. Ich beginne einmal mit den G-Worten. Geimpft, genesen oder getestet begleitet unser Leben. Gekränkt, gefrustet und gespalten wird die Gesellschaft wahrgenommen. Aber es gibt auch andere Worte, die mit G beginnen und die viel heilsamer sind. Worte, die das verbindende in den Mittelpunkt stellen. Worte, die Gut tun: Gewollt, geliebt und gesegnet – das ist jeder Mensch. Ich wünsche mir eine Veränderung der Worte, die mit G beginnen. Ich wünsche mir, dass jeder Mensch mit der Gewissheit aufwacht, dass sein oder ihr Leben gewollt ist, dass er oder sie geliebt ist und dass Segen über jedem Leben liegt. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und ich sage Ihnen zu: Sie sind gewollt, geliebt und gesegnet. 

Montag, 10.01.2022
Als ich vor vielen Jahren in der Diözesanleitung der Katholischen Jungschar in St. Pölten aktiv war haben wir folgenden Satz verwendet: „Erziehung will eine Haltung vermitteln, aus der ein Verhalten folgt. Diese Vermittlung braucht als Basis eine belastbare Beziehung und unwiderrufliche Wertschätzung. Bewertet werden darf nur die Sache ohne die Zuneigung zur Person in Frage zu stellen. Jede Bewertung braucht eine Begründung und eine glaubwürde Beziehung.“ Erziehung hat also immer eine Veränderungskomponente von Haltung und Verhalten. Wenn ich heute in die Gesellschaft schaue, dann frage ich mich oft, welche Haltung die Erziehung der vergangenen Jahre erzeugt hat und welches Verhalten daraus folgt. Haben wir genug solidarische Grundhaltung und Wertschätzung für jedes Leben und den nachhaltigen Schutz der Erde? An der Veränderung der Haltung zu arbeiten ist eine schwierige Aufgabe, aber sie wird sich lohnen, denn wir brauchen eine solidarische und nachhaltige Grundhaltung aus der entsprechendes persönliches Verhalten entstehen kann. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und Kraft, immer wieder – auch heute - an ihrer persönlichen Haltung der Solidarität und Nachhaltigkeit zu arbeiten. 

Dienstag, 11.01.2022
Im Jahr 1970 wurde ich in eine Zeit der Veränderung zum Besseren geboren. Das war zumindest das Grundgefühl, das mir in meiner Kindheit mitgegeben wurde. Und ohne es großartig zu merken bin ich Teil eines Wertewandels geworden, den Roland Inglehart als „Die stille Revolution“ bezeichnet. Individualität, Selbstverwirklichung, Freiheitsstreben, Emanzipation und persönliche Lebensqualität sind wichtiger geworden, existenzielle Absicherung und materieller Wohlstand sind für eine breite Bevölkerungsschicht zum Normalzustand geworden. Die Wertewelt hat an Vielfalt gewonnen und damit auch an Verbindlichkeit verloren. Unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen werden verstärkt durch die jeweilige Gemeinschaft, die sich zum Teil in sozialen Netzwerken abspielt. Ich fürchte manchmal, dass die Vielfalt der Werte sich zu einem Konfliktschauplatz der Werte wandelt, an dem es kaum noch möglich ist, gemeinsame Sichtweisen zu finden und zu formulieren. Eine liebe Freundin von mir hat für ihren Chor, den sie leitet, eine besondere Aufgabe formuliert: „Versucht einmal, einander lauter zuzuhören als zu singen!“. Ich wünsche Ihnen auch heute einen guten Morgen und für diesen Tag Gelegenheiten, bei denen es Ihnen gelingt, lauter zuzuhören als zu reden.

Mittwoch, 12.01.2022
Heute bin ich bei der Halbzeit meiner Morgengedanken. Halbzeit ist bei vielen Sportarten jener Zeitpunkt, an dem man die Spielrichtung wechselt. Einen neuen Blickwinkel einzunehmen, die Richtung zu verändern, neue Perspektiven zu finden oder wie es in der Bibel oft heißt: „Kehrt um!“ – all das verändert das Leben. Menschen dürfen klüger werden, dürfen ihre Meinung ändern, dürfen auch ihre Haltung und damit ihr Verhalten verändern. Das klingt einfach, ist aber eine schwierige Herausforderung. Bei vielen Sportarten ist das ganz normal. Der Schiedsrichter oder die Schiedsrichterin pfeift zur Pause, die Spielerinnen und Spieler erholen sich, reflektieren das bisherige Spiel und beginnen von Neuem. Legendär für ein Pauseninterview bleibt wohl der Satz von Anton Pfeffer, der im Jahr 1999 beim Stand von 5:0 für Spanien gemeint hat: „Hoch gewinnen wir das nicht mehr.“ Vielleicht täte unserer Gesellschaft auch ein Pausenpfiff gut, und nach einer kurzen Erholung kann es in die zweite Hälfte gehen. Aber nicht in ein weiteres Gegeneinander, sondern in ein Miteinander. Das wäre eine schöne Veränderung nach einer Pause: Miteinander statt gegeneinander. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und nutzen sie die Pausen des Tages um in Pausen Kraft zu holen und, um neue Blickwinkel einzunehmen.

Donnerstag, 13.01.2022
Demographische Entwicklungen verändern unsere Gesellschaft gerade sehr stark. In den meisten europäischen Ländern liegt das durchschnittliche Alter der Mütter bei der Geburt mittlerweile bei knapp 30 Jahren und die Anzahl der Geburten sinkt in Wellenbewegungen kontinuierlich seit Jahren. Derzeit beginnt eine weitere, spannende demographische Veränderung am Arbeitsmarkt. Die meisten Menschen, die derzeit in Österreich leben und arbeiten, wurden in den Babyboom-Jahren der 60er-Jahre geboren. Viele von ihnen gehen in den nächsten Jahren in Pension, aber viel weniger Menschen werden erwachsen und beginnen ihr Erwerbsleben. Grob gesehen bedeuten die Zahlen, die in den demographischen Tabellen der Statistik Austria zu finden sind, dass in den nächsten 10 Jahren von 7 anstehenden Pensionierungen nur 4 bis 5 Stellen nachbesetzt werden können. Ich halte diese demographischen Veränderungen für eine der großen langfristigen Herausforderungen unserer Zeit, die gleichzeitig Risiko und Chance beinhaltet und kluge, weitsichtige Entscheidungen erfordert. Entscheidungen, die von Herz und Verstand getragen sind, die aus Liebe getroffen und mit Vernunft begründet sind. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und für Ihre nötigen Entscheidungen ein gutes Zusammenspiel von Herz und Verstand, von Liebe und Vernunft.

Freitag, 14.01.2022
Was ist eine gute Veränderung, was ist ein gutes Bewahren des Bestehenden? Das sind zwei Fragen, die ich mir in meiner Verantwortung als Caritasdirektor immer wieder stelle. Ich halte Veränderung nur um der Veränderung willen für nicht sinnvoll. Denn auch alles Bestehende hat seinen Wert und ich bin überzeugt, es braucht gute Gründe, Veränderung aktiv zu gestalten. Ich wurde 2016 zum Caritasdirektor bestellt und nach einigen Monaten hat mir eine liebe Kollegin, die ich schon von früher kannte, gesagt: „Wir haben uns schon nach Veränderung gesehnt, aber so viel Veränderung hätte jetzt auch nicht sein müssen.“  Dieser kleine, ehrliche Wink mit dem Zaunpfahl hat immer wieder Berechtigung. Wir leben vermutlich in der besten Zeit und in einem der besten Länder, was Sicherheit, Wohlstand, Gesundheit und existentielle Absicherung betrifft. Veränderungen sollten aus meiner Sicht immer das Ziel haben, die Situation zu verbessern. Heute sind da vor allem Veränderungen gefragt, die unsere Erde für die nächsten Generationen in einem guten Zustand bewahren. „Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.“ Dieser Satz von einem Plakat, das bei uns zu Hause im Wohnzimmer hängt prägt mich seit 25 Jahren. Unter diesem Spruch ist meine Tochter bei einer geplanten Hausgeburt geboren und ich hoffe, dass ich ihr und vielleicht einmal ihren Kindern eine Welt zurückgebe, die zu Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit verändert wurde. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und bitte Sie, die Erde für die Kinder gut zu bewahren um unseren Planeten einmal gut an die nächsten Generationen zurück geben zu können.

Samstag, 15.01.2022
Veränderung war die Klammer, die ich über meine vorangegangenen Morgengedanken gestellt habe. Wir leben in Zeiten großer Veränderung, Veränderungen, die auch verunsichern und ängstigen können. George Saunders hat 2017 im Rahmen seiner Dankesrede zum Manbooker-Prize sinngemäß gesagt: „Wir leben in seltsamen Zeiten. Zeiten, die Unsicherheit und Angst auslösen können. Und wir können auf diese Unsicherheit und Angst mit Ausgrenzung, Gewalt und Hass reagieren, oder wir können auf diese Unsicherheit mit Zuwendung, mit Achtsamkeit, mit Vertrauen und noch mehr dieser göttlichen Liebe reagieren, die wir alle geschenkt bekommen haben.“ Ich bin überzeugt, dass es gerade in verunsichernden Zeiten Zuwendung und Achtsamkeit, Vertrauen und Liebe braucht. Als Caritas-Direktor leite ich eine Organisation, deren Name – Caritas – also „Liebe“ ist und diese sorgende, tragende und helfende Form der Zuwendung sehe ich als einen Schlüssel für eine gelingende Zukunft. Ich wünsche Ihnen heute ein letztes Mal in dieser Woche einen guten Morgen und ich wünsche uns allen, dass es vielen Menschen gelingen mag, heute, morgen und auch an den folgenden Tagen auf Unsicherheiten und Ängste mit Zuwendung, mit Achtsamkeit, mit Liebe und mit Vertrauen zu reagieren. Denn ich bin überzeugt, dass sich Gesellschaft dann zum Besseren verändert. 


Die Beiträge gibt es zum Nachhören und Nachlesen ab 9. Jänner auch hier:

https://religion.orf.at/radio/tags/morgengedanken/